Sinus-Jugendstudie 2016
Diversität gehört dazu

Zugehörigkeit in einer komplexer gewordenen Welt (A)
Zugehörigkeit in einer komplexer gewordenen Welt | Foto (Ausschnitt): oneinchpunch - Fotolia.com

​Alle vier Jahre untersucht das Sinus-Institut in einer Studie, wie junge Menschen in Deutschland ticken. Mitherausgeberin Silke Borgstedt über eine Generation zwischen Pragmatismus, Offenheit und dem Wunsch nach Zugehörigkeit.

Frau Borgstedt, Flucht und Asyl sind seit einiger Zeit ein Dauerthema. Auch die aktuelle Sinus-Jugendstudie legt darauf einen Schwerpunkt. Wie stehen die 14- bis 17-Jährigen dazu?

Es gibt einen grundlegenden Konsens: Wir leben in einem sicheren Land und wer in Not ist, dem muss geholfen werden. Zugleich fragen sich Jugendliche, was die Aufnahme von Flüchtlingen für ihr eigenes Leben bedeutet. Vor allem Jugendliche in prekären Lebenssituationen, die sich teilweise als Bildungsverlierer empfinden, haben das Gefühl, mit den Leistungsstandards nicht mithalten zu können. Für sie ist Zuwanderung durchaus auch Konkurrenz. Doch in der Regel dominiert eine offene Grundhaltung.

Liegen dieser grundsätzlichen Offenheit bestimmte Wertvorstellungen zugrunde?

Gerade die Gruppe der aktuell 14- bis 17-Jährigen sucht Halt und Zugehörigkeit in einer komplexer gewordenen Welt. Dieses Prinzip des Zusammenhaltens ist stärker ausgeprägt als die Bemühung, sich von anderen abzugrenzen. Jenseits von Zusammenhalt und Verlässlichkeit haben – wie in der letzten Studie vor vier Jahren – Werte wie Fairness und Höflichkeit deutlich zugenommen. Diese sind auch weiterhin kombiniert mit den typisch jugendlich ausgerichteten Werten: Spaß zu haben und sich auszuprobieren.

Wie wichtig ist Jugendlichen heutzutage die Religion?

Für Jugendliche ist es nicht so wichtig, wer an welchen Gott glaubt, und sie verurteilen religiös motivierte Konflikte. Unabhängig von dem gesellschaftlichen Milieu, aus dem sie kommen, sind sie sich einig, dass Diversität dazu gehört, auch wenn es immer wieder Konflikte geben wird. Die Jugendlichen sind aufgewachsen mit dem Gefühl, in einem Einwanderungsland zu leben. Für sie ist daher auch ein steigender Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund gelebte Realität.

Zugleich erstarken in Deutschland politische Akteure, die Nationalität und Nation betonen. Inwiefern spielt das für Jugendliche eine Rolle?

Dr. Silke Borgstedt vom Sinus-Institut Dr. Silke Borgstedt vom Sinus-Institut | Foto (Ausschnitt): © Jochen Resch Der Großteil von ihnen will sich als Europäer verstehen und ist nicht darauf bedacht, das Deutschsein zu betonen und als etwas Besonderes zu sehen. Der Bezug auf die eigene Nation und Nationalität ist eher altbacken, ein „Elternding“. Dieses postnationale Verständnis bedeutet allerdings nicht, dass es keine Ressentiments gegenüber Ausländern gibt. Diese führen jedoch nicht zu einer Überhöhung der eigenen Nation, sondern beispielsweise zur Frage, ob die Zusammensetzung der Gesellschaft stimmt und ob genug für alle da ist. Da kommen auch Existenzängste ins Spiel: Wie sieht es mit meiner Arbeitsstelle aus? Oder: Kriege ich Wohngeld, wenn mehr Leute hierher kommen?

Wie beurteilen Jugendliche ihre Zukunftsperspektiven?

Das hängt stark von der jeweiligen Lebenswelt ab. Insgesamt ist ihnen bewusst, dass man bestimmte Ressourcen braucht, um gut zurechtzukommen. Als Gesamtgruppe würde ich die Jugendlichen als zukunftspragmatisch bezeichnen. Es gibt jedoch ein Themenfeld, bei dem uns mit Blick auf die Zukunft Zurückhaltung begegnet ist: die Digitalisierung.

Inwiefern?

Wir haben eine Art digitale Sättigung beobachtet. Es ist wohl die erste Generation junger Menschen, für die Digitalisierung kein verlockendes Versprechen, sondern eine anspruchsvolle Aufgabe ist. Sie denken dabei auch an Überwachung und Kontrolle. Es beschäftigt sie, dass ihr Arbeitgeber weiß, was sie wann gemacht haben, dass ihre Daten nicht löschbar sind und wie ihre Privatsphäre geschützt wird. Bei Jugendlichen mit höherem Bildungsgrad spielt auch der Verlust analoger Skills eine Rolle. Sie bedenken also, dass wir uns stark von Technologien abhängig machen, und überlegen, was passiert, wenn sie mal nicht zur Verfügung stehen.

Gilt die kritische Einstellung auch für die sozialen Netzwerke?

Digitale Sättigung heißt nicht, alles abzulehnen. Soziale Netzwerke sind ihnen wichtig, wer da nicht drin ist, ist schon ein wirklicher Außenseiter. Eine Woche ohne Smartphone unterwegs zu sein, kann man sich nicht leisten. Doch es geht ihnen immer mehr auch um einen maßvollen Umgang, also theoretisch ausschalten zu können. Digitalisierung ist komplett entdramatisiert. Interneteuphorie ist etwas für Ältere.

Das klingt alles nach einem sehr nüchternen Blick auf Probleme und Herausforderungen. Die Jugendlichen wirken pragmatisch und zielorientiert.

Stimmt. Sie versuchen jeweils ihren eigenen Weg zu finden und sind weniger auf der Suche nach der großen Bewegung. Die Bindungsdauer an soziale Gruppen hat sich stark verkürzt, etwa beim sozialen oder politischen Engagement. Parteien sind für Jugendliche Vereinsmeierei. Sie engagieren sich stattdessen kurzfristig, beispielsweise unter einem Hashtag. Solche Bewegungen kommen und gehen viel schneller. Oft wird nach der großen Jugendbewegung gefragt. Aber auf welcher Basis soll die sich denn entwickeln? Wir haben eine lange Periode permanenter Individualisierung und entsprechenden Leistungsimperativen hinter uns. Ihr ganzes Leben lang wurde den jungen Menschen gesagt, sie müssten sich selbst darum kümmern, voranzukommen und ihnen ist bewusst, dass sie von den Früchten einer sogenannten Solidargemeinschaft, zum Beispiel mit Blick auf die Rente, vermutlich nicht oder kaum mehr profitieren werden.

Die Sinus-Jugendstudie beleuchtet seit 2008 alle vier Jahre die Lebenswelten von Jugendlichen in Deutschland im Alter zwischen 14 und 17 Jahren. Für die Studie 2016 führte das Sinus-Institut 72 qualitative Interviews mit Jugendlichen zu ihren Wertvorstellungen und Einstellungen in Bezug auf digitale Medien, nationale Identität oder Flucht und Asyl. Aus dem Bildungsniveau und den Grundorientierungen der Befragten ergaben sich insgesamt sieben Lebenswelten, die sich im Vergleich zur Studie aus dem Jahr 2012 nur wenig verändert haben.

Bibliografie: Calmbach, Marc; Borgstedt, Silke; Borchard, Inga; Thomas, Peter Martin; Flaig, Berthold Bodo: Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland. Berlin 2016: Springer Verlags GmbH.